Gymnasium. Die Reifeprüfung nach zwölf Jahren ist in der Diskussion. Lehrer stehen unter Druck, Kinder sind überfordert. Von Hendrik Lerch in NRZ vom 22.2.2008
AM NIEDERRHEIN. Harte Zeiten für junge Gymnasiasten: Ein Teil ihrer vergnüglichen Freizeit fällt flach. Grund dafür ist das so genannte „Turbo-Abi" - das Abitur nach zwölf Schuljahren beziehungsweise acht auf dem Gymnasium („G 8"). Im Frühjahr 2013 wird es in Nordrhein-Westfalen ein Doppelabitur geben, zwei Jahrgänge machen dann gleichzeitig ihren Abschluss.
Die Schülerinnen und Schüler der Klassen fünf bis sieben am Niederrhein bekommen es heute bereits richtig dick. Denn um den Lernstoff des „verlorenen Jahres" hereinzuholen, müssen sie Extra-Schichten (Nachmittags-Unterricht, Hausaufgaben) für die Schule einlegen. Zeit für Hobbys am frühen Abend - etwa Fußballspielen im Sportverein, der Klavierunterricht in der Musikschule, die Jugendgruppe der Kirche - bleibt kaum noch.
Pensum muss erfüllt werden
„Die Belastung für die Schüler hat sich durchaus geändert", bestätigt Claus Hösen, Schulleiter des Freiherr-vom-Stein-Gymnasiums in Kleve, „in der Sekundarstufe I kommt man nicht mehr mit 30 Unterrichtsstunden pro Woche aus." Da weiterhin die Vorgabe der Kultusminister aus dem Jahre 1995 eingehalten werden muss - 265 Jahrgangs-Wochenstunden bis zum Abitur, egal ob in acht oder neun Jahren -, stehen Schulen und Schüler unter Druck. „Aber", sagt Hösen, „würden die Schüler in dem Maße und so effektiv lernen, wie wir Pädagogen uns das vorstellen, dann kriegen sie das Pensum in acht Jahren locker hin." Andererseits weiß auch der zweifache Vater - sein jüngster Sohn (17) besucht derzeit die Jahrgangsstufe elf -, dass „Schule nicht der einzige Lebensinhalt ist."
Der Klever Lehrer Norbert Heipenstein hat bei der täglichen Arbeit festgestellt, dass „die Kinder an ihre Grenzen kommen. Sie haben deutlich mehr zu leisten als die Generation zuvor." Heipenstein befürchtet: „Einige Schüler werden künftig durchs Raster fallen, das ‚Turbo-Abi' nimmt keine Rücksicht auf persönliche Entwicklungen wie beispielsweise die Pubertät."
Mensen in Kleve und Wesel
Immerhin: Das Klever Gymnasium hält den Fünft- und Sechstklässlern die Zeit nach dem Mittagessen frei, die Siebtklässler (12/13 Jahre) aber bekommen ein- bis zweimal in der Woche Nachmittags-Unterricht aufgebrummt. „Die Gymnasien werden rudelweise zum Nachmittagsunterricht gezwungen", stellt Schulleiter Hösen fest. Die Vorraussetzungen dafür sind bei ihm gegeben: Eine Cafeteria gibt's schon, die Einrichtung einer Mensa wurde von der Stadt abgesegnet und soll noch 2008 kommen. Auch die Weseler Gymnasien Konrad-Duden und Andreas-Vesalius haben „grünes Licht" für eine Mensa bekommen. Als ein Schritt auf dem „inoffiziellen Weg zur Ganztagsschule" bezeichnet Dr. Heinzgerd Schott, Schulleiter des Konrad-Duden-Gymnasiums, die Entwicklung in Sachen „Turbo-Abi". Schott: „Die Belastung für Sechstklässler ist wirklich heftig." Die Elf- und Zwölfjährigen werden mit 33 Unterrichtsstunden pro Woche konfrontiert. Und besonders im ländlichen Bereich stehen dann noch weite und lange Busfahrten an. „Wer beispielsweise um 15 Uhr Schulschluss hat, ist erst um 16.30 Uhr zuhause", erklärt Schott. Erschrockene Eltern haben sich bereits bei Lehrern gemeldet: Ihre Kinder kommen „völlig platt" von der Schule nach Hause, Konzentration und Motivation für den Rest des Tages sind futsch.
„Man hätte sich vorher ernsthaft mit den Folgen für die Schüler auseinandersetzen müssen", spricht der Weseler Schulleiter Klartext. Er kritisiert Deutschlands Kultusminister, die neben den Jahrgangs-Wochenstunden auch den üppigen Lehrstoff vorgeben. Dem schließt sich der Leiter des Klever Johanna-Sebus-Gymnasiums, Wolfgang Urbach, an: „Die Schulreform ist im Ansatz vielleicht richtig, in der Ausführung aber unglücklich und inhaltlich nicht durchdacht." Den Schulen wird dabei, so Urbach, der „Schwarze Peter zugeschoben."
Eine gute Nachricht lässt nun aber hoffen: Nach Protesten von Lehrern und Eltern wurde jüngst auf einem Krisengipfel im Schulministerium über eine Änderung des aktuellen Schulsystems und eine Entschärfung der Probleme diskutiert. „Eine Straffung der zentralen Kernlehrpläne wurde angekündigt", weiß Dr. Heinzgerd Schott, „das wäre eine richtige Entscheidung." Und zwar im Sinne aller Beteiligten: der teilweise überforderten Schüler, der Lehrer und auch der Eltern.
DAS ABITUR
Das Abitur ist der höchste in Deutschland erreichbare Schulabschluss. Mit dem Reifezeugnis darf der Abiturient an der Hochschule bzw. Uni studieren. Als erster deutscher Staat führte Preußen es mit dem Reglement von 1788 ein, das gegen kirchlichen Widerstand durchgesetzt werden musste. Im Jahr 1896 konnten erstmals Frauen (in Preußen) das Abitur ablegen.