Bestandsaufnahme: Kids in den Fünfer- und Sechser-Klassen schleppen bis zu acht Kilo mit sich herum
Kreis Wesel. Ein runder Monat ist vergangen seit dem Start des neuen Schuljahres. Unserer Redaktion sind - vor allem beim Schnuppern in den Eingangsklassen der Gymnasien - viele Schüler/innen aufgefallen, die sich an ihrer Tonne einen Wolf schleppen. Die meisten von ihnen tragen's mit Fassung. Aber in der Elternschaft brodelt spürbarer Widerwille.
Beispiel Leon, zehn Jahre, Gymnasiast: Seine Schultasche wiegt, durchschnittlich beladen, rund siebeneinhalb Kilogramm. Leon ist eher schmächtig, wiegt unter 30 Kilo. „Ich hab' Rückenschmerzen, wenn ich nachmittags nach Hause komme", sagt der Fünftklässler. Und er ist bei weitem kein Einzelfall.
Alle Jahre wieder ein Knackpunkt in der Diskussion: der Anteil der Doppelstunden am Gesamtunterricht. Spricht man die Schulen auf dieses Reizthema an, hört man recht unterschiedliche Erklärungsansätze. Die Direktoren der Gymnasien bewerten die Stundenplan-Gestaltung mit vielen Einzelstunden positiv (siehe Titel-Fortsetzung) und verweisen auf die Möglichkeit für Schüler, ihre Bücher bei Bedarf in einem Miet-Spint oder Klassenschrank zu deponieren.
Realschulen sehen die Sache mit dem Doppelstunden-Anteil anders. Manfred Niespor, Leiter der Heinrich-Meyers-Realschule in Hamminkeln, erklärt: „Schultaschen sollten so leicht wie möglich sein. Doppelstunden sind im Regelfall kein Knackpunkt für mehr sondern weniger Gewicht, wenn sie konzedieren (Anm. d. Red.: zugestehen, einräumen), dass in diesem Fall ja nur drei Fächer an diesem Tag unterrichtet werden können und sich die „Buchlast" damit halbiert.
Im Fall der Realschule Hamminkeln liegt zusätzlich noch ein Fachraumprinzip vor, das heißt: weitestgehend alle Lehr- und Lernmittel, auch die Schulbücher, sind in den Fachräumen. Die Schüler brauchen sie von zu Hause nicht mehr mitzubringen. Rein theoretisch dürften die schwersten Gegenstände in den Schultaschen der Schülerinnen und Schüler die Trinkflasche, die mitgebrachte Verpflegung sowie die Sammelmappen der Hausaufgaben sein."
Der Weseler Kindearzt Dr. Björn Nehlsen meint: „Das Gewicht der Tasche allein macht meiner Ansicht nach nicht unbedingt einen negativen Effekt aus. Die Kinder sollten mit einem schweren Schulranzen auf dem Rücken allerdings nicht eine Stunde lang unterwegs sein."
Der Fachmann weist auf aktuelle Untersuchungen hin, bei denen keinerlei Schäden für junge Rücken bewiesen worden seien. Nehlsen: „Solange die Kinder orthopädisch vernünftige Ranzen oder Rucksäcke benutzen, kann das sogar einen geraden Rücken machen." Die Tasche müsse aber am Rücken anliegen und dürfe nicht zu tief hängen oder „rumschlabbern".
Die altbekannte Mediziner-Einschätzung, die Schultasche solle höchstens 10 Prozent der Körpergewichts haben, sei längst überholt.
Dirk Bohlen in DER WESELER von Mittwoch, 10. September 2008
Wieviel schleppt denn Ihr Kind ?
Sie möchten uns Ihre Erfahrungen gerne zukommen lassen? Bitte gerne: Fotografieren Sie Ihr Kind mit seiner „Tonne" und schicken Sie uns das Foto digital (möglichst hohe Auflösung) mit einigen Angaben zu: Name, Alter, Klasse, Schulweg, durchschnittliches Gewicht der Tonne. Wir stellen Ihre Einsendung auf unsere Homepage. Klicken Sie dort den „Briefkasten" in der Menüleiste an, über den können Sie Ihre Daten versenden.
Dr. Heinzgerd Schott, Konrad-Duden-Gymnasium, sagt:
Zu 1) „Das Thema Menge und Gewicht der Schulbücher in den Schultaschen ist fast jedes Jahr ein Beschwerdepunkt. Acht Kilo müssen nicht sein. Besprechen Sie mit dem/der Klassenlehrer/ in bei der Pflegschaftssitzung, welche Möglichkeiten der Gewichtsreduzierung es gibt:
1. Ablage der Bücher, die nicht für Hausaufgaben benötigt werden, im Klassenschrank.
2. Absprache der Banknachbarn, wer welches Buch mitbringt. Ein Buch pro Bank kann ausreichend sein. Das sehen aber die Fachlehrer unterschiedlich.
3. Die Klassenlehrer/in kann dies abfragen und vereinbaren.
4. Jeden Tag die Tasche neu packen. Oft bleiben überflüssige Bücher in der Schultasche.
Zu 2) Die Gründe für Einzel-/Doppelstünden sind vielschichtig. Lernpsychologisch ist es besser, vier mal pro Woche eine Stunde zu haben als zwei mal zwei Stunden pro Woche zu unterrichten. Bei „Neben"-Fächern ein mal zwei Stunden pro Woche zu unterrichten, ist nur in Sport und Kunst sinnvoll. Bei vier mal einer/ zwei mal einer Stunde gibt es mehr Wiederholung und Festigung, mehr Übungsmöglichkeiten bei Hausaufgaben. Bei fünf bis sechs Wochensstunden ist eine Doppelstunde dabei."
Zu 3) Individuelle Schließfächer können helfen. Ein professioneller Anbieter vermietet am KDG solche Fächer. Infos dazu erhält man im Sekretariat (Mietpreis 25 Euro pro Schuljahr)
Klaus Ginter, Direktor der Gesamtschule Hünxe, meint:
Zu 1): Das Problem tritt jährlich wieder neu auf und muss mit den Schülern und vor allem auch mit den Eltern zu Beginn des Schuljahres besprochen werden. Die Kinder müssen lernen, den Tornister täglich je nach Bedarf neu zu packen und nicht benötigte Unterlagen zu Hause oder in der Schule zu lassen. Eltern sollten den Tornister regelmäßig überprüfen.
Zu 2): Einzelstunden sind nicht die Ursache des Problems, können es jedoch bei ungeeigneten Packgewohnheiten verstärken. In der Gesamtschule Hünxe haben Stichproben im letzten Jahr ein Durchschnittsgewicht von 5,4 Kilogramm ergeben und damit den geringsten Wert im regionalen Vergleich. Zur weiteren Gewichtsreduktion tragen bei der Entwicklung angemessener Packgewohnheiten einschließlich der Kontrolle durch die Eltern (siehe auch Möglichkeit, in der Schule einen Teil der Hausaufgaben anfertigen zu können sowie Ablagemöglichkeiten bzw. Schließfächer in der Schule bei.
Zu 3: Schließfächer sind vorhanden.
Jürgen Berner vom Andreas-Vesalius-Gymnasium, erklärt:
1) Dass die Schülerinnen und Schüler solches Gewicht mit sich herumschleppen, ist sehr ärgerlich. Wir haben uns in der Schule schon mehrfach mit dem Thema beschäftigt und im Rahmen unserer gesundheitserzieherischen Maßnahmen auch schon einmal die Tornister gewogen. Vermeidbar ist das Schleppen so hoher Gewichte durch das sinnvolle und tägliche Packen der Schultaschen, was ganz sicher nicht immer geschieht. Viele Schüler nehmen täglich mehr Dinge mit, als notwendig sind. Die Schüler können aber auch ihre Lehrer darauf aufmerksam machen, dass sie zum Beispiel am folgenden Tage so viele verschiedenen Unterrichtsstunden haben, dass das Gewicht der mitzunehmenden Materialien zu groß wird. Hierzu ist aber eine genaue Absprache und die Mitarbeit der Schüler nötig, was sich einfacher anhört, als es in 3er Realität leider oft ist.
zu 2) Die Einzelstunden sind einfach Tradition, die aber allmählich aufgelöst wird. Wir haben in unserer Schule auch schon über andere Modelle geredet (z.B. 60-Minuten Stunde), wir sind aber noch nicht zu einem Wechsel übergegangen. In der jüngsten Vergangenheit ist so viel Neues auf die Schulen zugekommen, dass man kaum weiß, womit man zuerst beginnen soll. Wir sind am AVG jedenfalls in der Diskussion um diesen Punkt.
Das sagen andere Experten ...
„Ein schlecht sitzender oder zu schwerer Ranzen strapaziert auf Dauer die Wirbelsäule", schreibt eine große Krankenkasse.
„Die meisten Kinder tragen ihren Schulranzen zu hoch. Er darf vor allem nicht auf die Lendenwirbel drücken und auch nicht über die Schultern hinausragen", meint der TÜV Süd.
„Zehn- bis Zwölfjährige tragen besonders schwer", so ein Wissenschaftler der Uni Tübingen im Jahr 2007. 54 Prozent der Schüler litten durch das Tragen zu schwerer Schultaschen unter Rückenschmerzen.
Diverse Politiker fordern, den Fach-Lernstoff auf mehrere Bücher zu verteilen und diese auf leichterem Papier zu drucken.